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SINNENDE ATHENA - Athena Weihrelief, Akropolismuseum

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2018-12-29 2022-02-20 29.12.2018

Zu den beeindruckenden Exponaten des Athener Akropolismuseums 695 ¹ gehört das Weihrelief an Athena der Jahre um 460 v. Chr., ein Relief des Strengen Stils aus parischem Marmor und ein zu Recht vielbewundertes Kleinod von der Akropolis. Es ist ein großartiges Weihrelief, darauf die behelmte Göttin Athena in einer leichten Schrägstellung mit gesenktem Haupt auf ihre Lanze gestützt abgebildet ist. Sie trägt einen schlichten, faltenreichen und gegürteten Peplos, hat ihren rechten Arm in die Seite geschoben, während sie sich mit ihrer Linken auf ihre Lanze stützt. Dadurch ergibt sich ein Bild der enormen Ruhe, welches das Nachdenken der Göttin ausdrückt, vielleicht auch ihre Trauer vorgibt - deswegen der beliebte Rufname "Sinnende Athena", von manchen Archäologen auch "Trauernde Athena" genannt. Wichtig ist obendrein der Hinweis, dass Athena neben einem Pfeiler steht, der höchstwahrscheinlich „einst eine aufgemalte Inschrift“ trug. Über den Inhalt dieser möglichen Inschrift ist jedoch nichts überliefert, sodass wir diesbezüglich nur spekulieren können. Vielleicht dürfen wir mit den Archäologen Lambert Schneider und Christoph Höcker ² vermuten, dass damit „ein Grenzstein Attikas“ gemeint sein könnte. Dann wäre die Göttin „metaphorisch als Landesherrin“ zu interpretieren. Oder wir nehmen „eine in Stein gehauene staatliche Urkunde“ an, wodurch „Athenas Rolle als Staatsgöttin des demokratischen Athen“ hervorgehoben und „sogar der außenpolitische Machtanspruchs Athens (…) ausgedrückt“ wäre, „wenn der Betrachter in dem Pfeiler etwa eine Tributliste von Abgaben der >Bundesgenossen< an Athen und seine Göttin Athena sah“ (L. Schneider/Chr. Höcker).  Anders, ein wenig nüchterner vielleicht dagegen die Interpretation des Genfer Archäologen José Dörig, der den Pfeiler „mit großer Wahrscheinlichkeit als Ziel- und Startstein der Palästra zu erklären“ ³ versucht und der Ansicht ist, die Stele sei als „das Weihgeschenk eines siegreichen Athleten an die Burggöttin von Athen“ zu verstehen, „die hier im Zuge der Zeit als sinnendes Mädchen im attischen Peplos und Helm auf die Lanze gestützt dargestellt ist“. Dagegen lässt der Archäologieprofessor German Hafner (1911-2008)⁴ die Interpretation des Pfeilers unbeantwortet und listet lediglich seine Deutungsmöglichkeiten „als Grenzstein, Urkundenstele oder Tempelinventar“, aber auch „als Zielstein einer Palästra“ auf, ohne sich im Einzelnen festzulegen. Der Münsteraner Archäologieprofessor Werner Fuchs ⁵ (1927-2016) hingegen deutet den Pfeiler als Grenzstein und weist darauf hin, dass „ähnliche Pfeiler (…) in der Palaestra als Zielsteine“ vorkommen. 

Das Marmorrelief misst 54 x 31 cm und ist nur an wenigen Stellen ergänzt worden  - etwa in der oberen linken Ecke und am linken Unterarm. Es ist in die Gruppe der Einfigurenreliefs einzuordnen, bei der sich der Bildhauer voll und ganz auf die Wiedergabe einer Figur - in diesem Fall der Göttin Athena, kenntlich an Helm und Lanze -  konzentriert hat. Beeindruckend, wie ausdrucksstark der Bildhauer trotz der geringen Maße des  Reliefs die Figur der Göttin Athena gestaltete, wie vielsagend er ihre Haltung formulierte, vor allem aber, wie er die Emotionen in diesem Bild der für Athen so wichtigen Gottheit zum Ausdruck brachte. Durch die Beschränkung auf eine Figur in diesem Reliefbild hat der Bildhauer in der Tat eine unerhoffte Monumentalität gewonnen, die bereits der Freiburger Archäologe Walter-Herwig Schuchhardt (1900-1976) hervorhob, indem er bemerkt: „Das Relief mit Athena (…) wirkt durch die Monumentalität der Komposition wie der Formen weit größer, als seine faktischen Maße sind: Eine kleine Platte (…) ist von einer einzigen Figur erfüllt.“ ⁶ 

Athena, deren behelmter Kopf ein wenig nach unten geneigt ist und zudem in Seitenansicht erscheint, ist in einer leichten Körperdrehung wiedergeben und stützt sich mit der ganzen Kraft ihres Körpers auf die in ihrer Linken befindlichen Lanze. Sie ist in einen faltenreichen „Peplos mit langem Überfall“  wiedergegeben, der Arme, Füße und Hals unbedeckt lässt und an den Schultern zusammengehalten wird. Bei genauerer Betrachtung sieht man deutlich, wie Werner Fuchs zu Recht bemerkt, dass „die strengen Steilfalten des Peplos, die den noch seitlich gesehenen Unterkörper völlig verhüllen, (…) in Kontrast zu den stofflicheren Falten seines Oberteils (stehen)“ und dadurch die Komposition des im „feinen Profil des mädchenhaften Antlitzes“ zu dem „in leicht verkürzter Dreiviertelansicht wiedergegebenen Oberkörper“ noch weiter kontrastieren. Bereits der Marburger Kunsthistoriker und Begründer des "Bildarchivs Foto Marburg" Professor Richard Hamann (1879-1961) stellt fest:  „Ähnlich wie beim Wagenlenker in Delphi zeigt die Stele der sinnenden Athena in Athen (…) die Entwicklung des Gewandes von den der Fläche angepressten geplätteten Falten zu plastisch runden Faltenstäben, die über dem Gürtel des dorischen Peplos sich biegsam begegnen, unter dem Gürtel sich nach dieser kapitellartigen Schwellung in straffer Streckung zur Säule bündeln. Auf den ersten Blick noch in strenger archaischer Parallelität gereiht, die den Eindruck des frühklassischen und strengen Stiles in erster Linie bedingt, bieten sie dem länger verweilenden Auge den Eindruck freier Entwicklung der Stofflagen in mannigfaltigster Stärke und Form der Falten, von dickeren Röhren zu flacheren Doppelfalten und zu schmalen Randfalten an der geöffneten Seite des Peplos und in leichter Richtungsverschiebung auf der rechten Seite.“ ⁷  Der leicht nach unten gesenkte Kopf mit dem korinthischen Helm ist in der Seitenansicht fein herausgearbeitet, wobei die das rechte Ohr freilassende Fisur deutlich unter dem Helm hervortritt und zusammen mit dem Schema von Auge, Nase und Mund das mädchenhafte Antlitz deutlich unterstreicht und zugleich die nachdenkliche, auf den Pfeiler gerichtete Blickrichtung der Göttin hervortreten lässt. Ihre Körperhaltung wird dadurch untermauert, dass ihr linker Fuß nur mit Ballen und Zehen auf dem Boden ruht, während ihr rechter Fuß ganz auf dem Boden aufsteht. Somit steht sie etwas schräg und stützt sich mit ihrem Körpergewicht größtenteils auf die Lanze in ihrer Linken. Deswegen ist ihr linker Fuß seitwärts erhoben und entlastet, wohingegen ihr Körpergewicht auf dem rechten Fuß ruht. Durch diese fein ausgearbeiteten Stilmittel schuf der Meister „ein ausgewogenes Bild frühklassischer Daseinsform um 460 v. Chr.“, dabei die Figur der Athena in diesem Reliefbild wie die Kopie einer Peplosfigur im Casino Borghese in Rom oder wie der Wagenlenker in Delphi dargestellt ist - sie in einem Reliefbild, die beiden Vergleichsobjekte als freistehende Statuen in ähnlichem Aufbau. Deswegen formuliert Walter-Herwig Schuchhardt ⁸: „Knapp und sparsam, ein wenig eckig sind Bewegungen und Gesten. Schwer und lang ist das Profil gezogen, etwa dem kleinen Bronzekopf von der Akropolis (…) ⁹ vergleichbar. Neu und kühn ist die Form verkürzender Schrägstellung, die verhalten, doch konsequent vom schrägen Ausschnitt am Halse über die verschobene Gürtelmitte zum Fall des Peplos führt.“ Diese geglückte Komposition lässt den Strengen Stil der Jahre um 460 v. Chr. erkennen und damit jene frühklassische Daseinsform, die nach der Definition von W. Fuchs ¹⁰ „den Höhepunkt der griechischen Skulptur (…) bestimmt: die Daseinsform, die den Menschen ganz auf sich selbst beschränkt und doch zugleich über sich hinaushebt, die den großen Rhythmus findet, der alle Teile einer Gestalt durchzieht und in einer neuen Einheit ordnet, die vom Geist, vom Willen und von der Seele bestimmt wird. Mit dieser klassischen Leistung der Griechen in der Spiegelung des Makrokosmos der Welt im Mikrokosmos des Menschen entsteht eine einmalige neue Prägung des Menschenbildes, die (…) zum ersten Mal in der Weltgeschichte der Kunst den Menschen als Menschen entdeckt, sein Bild festhält, den archaisch gefügten Körper gefügig machend und aufnahmebereit zum Träger des Ausdrucks.“ 

Das Relief mit der still in sich versunkenen Athena, deren Körpersprache die angesprochenen Kontraste deutlich erkennen lässt, strahlt jene innere Ruhe aus, die den Betrachter zum Nachdenken annimieren soll. In der Formulierung G. Hafner’s ¹¹ heißt es schlicht: „Das "Inhaltliche"  ist bei den Kunstwerken dieser Zeit nicht immer so leicht zu erfassen, wie bei den älteren; das  "Ethos", die Stimmung, überdeckt das vordergründige Geschehen und fordert den Betrachter zum Nachdenken auf.“ Wenn „alle Skulptur (…) immer Auseinandersetzung von Körper und Raum“ ¹² ist, wie W. Fuchs postuliert, dann nimmt die Göttin Athena in diesem Relief als Einzelfigur einen besonderen Platz ein und fordert den Betrachter durch ihre nachdenkliche Haltung geradezu auf, Stellung zu beziehen und sich Gedanken über das im Relief Dargestellte zu machen. Hier ist dem Meister dieses Reliefs ein wahres Wunderwerk gelungen, darin er zum einen das Menschenbild der Göttin klar formuliert und zum anderen ihre innere Seelenstimmung ebenso klar ausdrückt, darüberhinaus durch ihre monumentale Anordnung und Körperdrehung in diesem Reliefbild ein Verhältnis zum Betrachter entwickelt, der nun gleichsam unsichtbar in das Geschehen einbezogen ist und somit Teil des Darstelltung wird. Der ehemalige Pariser Professor und Kenner der griechischen Kunst- und Kulturgeschichte  Kostas Papaioannou ¹³ hat in seinem Werk darauf hingewiesen, dass sich dieser neue Stil bereits in dem Kritios-Knaben von der Akroplis der Jahre um 490/480 v. Chr. ankündigt. Er schreibt: „In dem herrlichen Kritios-Knaben tritt ein neuer Stil in die Welt:  menschlicher, weniger erfüllt vom Schauder des Göttlichen. Wir sind nicht so vermessen, zu meinen, wir könnten das Geheimnis benennen, das diese hohen Jünglingsgestalten im Laufe dieses kraftstrotzenden Jahrhunderts offenbarten und zum Ausdruck brachten; gewiss ist aber dies: sie hatten ihre Mission erfüllt und mussten abtreten. An die Stelle dieser göttlich-menschlichen Wesen setzte die zweite Klassik das Menschliche schlechthin, das dem Göttlichen so fern stand und ihm doch so nah war ’durch die Erhabenheit seines Geistes’. Der Wagenlenker von Delphi und andere seiner Art trugen die Überlieferung der Kuroi weiter; doch keine einzige Nike - auch nicht die von der Akropolis -, keine Aphrodite, keine Karyatide - vor allem nicht die des Erechtheions - konnten je die strahlenden Epiphanien des vergangenen Jahrhunderts zu neuem Leben erwecken.“  

Um 460 v. Chr. ist also dieses Relief im Akropolismuseum zu Athen zu datieren. Es gehört damit noch der frühklassischen Phase des Strengen Stils an, also in eine Phase der griechischen Kultur, in der Athen mehr und mehr Gewicht in der damaligen Welt bekam und langsam auf einen Höhepunkt seiner kulturellen Entwicklung hinsteuerte, nachdem die großen kriegerischen Auseinandersetzungen mit den in den griechischen Raum vordringenden Persern um die Vorherrschaft im Mittelmeergebiet mit den Siegen bei Marathon (490), Salamis (480) und dann endgültig bei Plataiai (479) zugunsten der Griechen entschieden waren. Diese Geschehnisse beschreibt José Dörig ¹⁴ wie folgt:  „Das Jahr 500 ist ein gewichtiger Wendepunkt der griechischen Geschichte und Kunstgeschichte von geradezu symbolischer Bedeutung. Denn dieser Augenblick des Anhaltens und Atemholens bedeutet nicht allein den Abschied vom endenden sechsten Jahrhundert, sondern von einem damit abschließenden halben Jahrtausend griechischer Kunst; und kündigt zugleich bereits das klassische Jahrhundert an. Nicht etwa, dass sich das Blatt mit einem Schlag um 500 gewendet hätte. Den Wendepunkt kündigt das zukunftsträchtige Ereignis des heldenhaften Angriffes von Harmodios und Aristogeiton auf die attischen Tyrannen Hippias und Hipparch im Jahre 514 gleichsam wie ein Wetterleuchten an. Der Aufstand der ionischen Griechen (500-494) gegen die Fremdherrschaft der Perser löste die Gewitterstürme der Perserkriege aus, in denen die Griechen ihren neuentdeckten Freiheitsdrange Raum schafften, ihn zugleich steigerten und dabei ihrer hellenischen Art in bisher ungeahnter Weise bewusst wurden. Die Schlachten von Marathon, bei den Thermopylen und Salamis bezeichnen geradezu den Ausgang des Dramas, das mit dem Tyrannenmorde eingeleitet wurde. Erst mit dem um 480 einsetzenden Strengen Stil erlangte das neue Bewusstsein panhellenische Geltung, doch wäre es verfehlt, die Jahre von 514-480 als historisches Niemandsland zu betrachten. Dass die Fülle der Gärungsvorgänge kaum genügend erforscht oder gar erfasst ist, dass die Geburt des klassischen Jahrhunderts auf weite Strecken im geheimnisvollen Dunkel verharrt, dass Altes und Neues nebeneinander hergehen und das Ältere auch in jüngeren Zeiten noch mächtig neben dem zukunftsweisenden Neuen sich zu äußern vermag, erweist nicht unser Bild der Geschichte als falsch, sondern seine lebendige Vielfalt.“  

Der Begriff des Strengen Stils ist nicht erst eine „Erfindung“ der Archäologie, sondern geht vielmehr auf die Antike zurück und wird bereits von Cicero ¹⁵ benutzt, der „den Begriff bei einem Vergleich der Rhetorik mit der Kunstgeschichte“ verwendet und bereits „etliche Namen von Künstlern (erwähnt), die er dieser Stilstufe zuordnet:  Kanachos, Kalamis, Myron (...)“.  Ganz allgemein können wir festhalten, dass diese Stilstufe den Zeitraum vom Ende der Tyrannis bis zum Baubeginn des Parthenon und der beginnenden Vormachtstellung des Perikles in Athen umschreibt und somit eine Phase der politischen Umwälzungen und des gesellschaftspolitischen Veränderungsprozesses, darüber hinaus der künstlerischen Neuerungen meint. Dabei spielt „die Entdeckung des sogenannten Kontraposts, einer Achsenverschiebung im Aufbau des menschlichen Körpers im Stand bei einem entlasteten Bein“ eine besonders wichtige Rolle. Außerdem sind jetzt in der künstlerischen Entwicklung die äußeren Einflüsse aus Ägypten, aus dem Orient oder aus dem hethitisch-urartäischen Raum, die in den Anfängen der geometrischen und archaischen Epoche überwogen,  weit in den Hintergrund gedrängt; vielmehr sind alle Neuerungen und Veränderung „erstmals griechisch“, wie Wolfgang Hautumm ¹⁶ bemerkt. Der sognannte Kontrapost ist eine griechische Erfindung, der „von Griechenland aus seinen Siegeszug“ antritt. Die Neuerungen sind ablesbar an den Tempelgiebeln dieser Zeit – vom Aphaiatempel auf Aigina über den Zeustempel in Olympia bis hin zum Parthenon in Athen - und zeigen die Veränderungen im Menschenbild genauso wie Tierbild, in der Skulptur genauso wie in der Malerei und gerade auch in der Vasenmalerei. Neben der Veränderung des Menschenbildes ist besonders die Eroberung des Raumes bei den Bildhauern zu beobachten, indem „Körperdrehungen und Anordnung der Gliedmaßen (…) immer kühner (werden)“ und die Kompositionsmöglichkeiten sowohl bei Einzelfiguren als auch bei Gruppendarstellungen erweitert werden. Diese Entwicklungsprozesse wären allerdings ohne die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen und die Hinwendung gerade der ionischen Griechen hin zur Demokratie kaum denkbar, genauso wie die Künstler insgesamt allmählich „aus ihrer Anonymität“ ausbrechen und jetzt immer mehr als Einzelpersönlichkeiten fassbar werden und entsprechend überliefert sind. Hier spielt die angesprochene Meisterfrage eine entscheidende Rolle.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Marmorrelief der "Sinnenden Athena" ist ein Meisterwerk der Akropolis der Jahre um 460 v. Chr. und eine eindrucksvolle Arbeit des Strengen Stils. Leider wissen wir nicht, wer der Meister dieses Reliefwerks war, können aber vermuten, dass er höchstwahrscheinlich aus Attika stammte, obwohl Walter-Herwig Schuchhardt anmerkt: „Nicht ohne den Einfluss argivischer Erzkunst ist dieses kleine, stolze Werk am Ende der sechziger Jahre entstanden.“ ¹⁷ Ein Vergleich mit dem Relief eines sich bekränzenden Epheben, das 1915 in der Nähe des Athenatempels in Sunion gefunden wurde und sich heute im Athener Nationalmuseum befindet ¹⁸, zeigt in Komposition und Aufbau dieser Stele durchaus Ähnlichkeiten mit unserem Relief der "Sinnenden Athena". Allerdings ist nur der obere Teil dieses Reliefs erhalten, das wohl in die Jahre um 460 v. Chr. gehört, von einigen Archäologen allerdings etwas früher um 480 v. Chr. datiert wird. Aufgrund des Fundortes in Sunion in dem dortigen Athenaheiligtum muss es zwingend als Weihrelief interpretiert werden, sodass von vornherein die Interpretation als Grabrelief ausscheidet. Es zeigt einen nackten Epheben in Seitenansicht mit kurzem, bis in den Nacken herabreichendem Haar, der nach links blickt und sich mit seiner Rechten bekränzt. Die Löcher „zur Befestigung des Metallkranzes“ sind noch erhalten, außerdem „Spuren hellblauer Farbe, die den Hintergrund der Figur  bildete“ (S. Karusu). Auch hier ist das Haupt ein wenig gneigt und sein Antlitz klar formuliert. Auch hier sehen wir einen gewissen Kontrast zwischen dem in Seitenansicht abgebildeten Haupt und dem in Dreiviertelansicht wiedergegebenem nackten, kräftigen und muskulösen Oberkörper. Wie der Archäologe W.-H. Schuchhardt aus der Anlage des erhaltenen Oberkörpers des Jünglings schließt, war „auch bei ihm (…) offenkundig Stand- und Spielbein geschieden; das rechte liegt am Grunde und ist gelockert verschoben. Das linke, im Vordergrund, war wohl plastischer gebildet. Von ihm als Standbein wird die linke Beckenhälfte emporgeschoben, sodass die Hüfte leicht eingeknickt erscheint.“ Ebenfalls eine hochwertige Reliefarbeit, welche die handwerkliche Qualität der Bildhauer des Strengen Stils eindrücklich belegt.  

Die künstlerische Meisterschaft des Bildhauers unserer Stele der "Sinnenden Athena" zeigt sich gerade in seinem Können, in diesem Einfigurenrelief eine besondere Stimmung zu erzeugen, die sich auf den Betrachter des Reliefs überträgt und ihn zum Nachdenken über das Gesehene animiert. Erzeugt wird diese besondere Ruhestimmung durch die nachdenkliche, in sich versonnene Haltung der Göttin Athena und ist mit  nur wenigen stilistischen Mitteln vom antiken Bildhauer geschaffen worden - Richard Hamann hat dies schon früh so beschrieben: „Und hier nun wird der Rest archaischer Strenge und Härte, die in den unnatürlich schräg stehenden, der Weichheit des Stoffes widerstreitenden Falten liegt, vollends gelöst in klassische Ruhe und Lockerheit durch das Ausruhsame des sich stützenden Stehens, das Sichanlehnen, das zusammen mit der weichen Rundung der Formen und Weichheit der Bewegungen den Charakter jugendlicher Weiblichkeit wiederherstellt. Denn dieser kommt auch der behelmten Athene zu, sonst würde sie nicht mit Hera und Aphrodite um den Apfel des Paris gestritten haben. Das Gesicht dieser Athene hat die zarten Formen der Euthydikoskore ¹⁹ in besonders feiner Art. Das Auge ist kein scharfes Vogelauge mehr, ist seitlich gesehen in der reliefmäßigen, aber klar in die Tiefe führenden und vom Grunde sich ablösenden Modellierung des Gesichtes. Der Ausdruck des Ernstes ist nur die Kehrseite der Harmonie und Insichgeschlossenheit. Die Hände, besonders die speerfassende, sind ähnlich leicht und differenziert in der Bewegung der Finger wie die des Wagenlenkers.“ ²⁰ 

 

Anmerkungen

  1. G. Lippold, Die griechische Plastik, München 1950 (= Handbuch der Archäologie III 1), 110 Anm. 2, Taf. 35, 1.  R. Lullies/M. Hirmer, Griechische Plastik, München 1960², Taf. 139. http://viamus.uni-goettingen.de/fr/mmdb/k (mit Lit.). G. Neumann, Probleme des griechischen Weihreliefs, Tübingen 1979, Taf. 20 a. H. Jung, „Die sinnende Athena“, JdI 110, 1995, 95-147.  I. Trianti, Το Μουσείο Ακροπόλεως, Athen 1998, Abb. 249 f. P. N. Zapheiropoulou, Masterpieces of Ancient Greek Sculpture, Athen 2005, 156 f. O. Pelagia, Greek Sculpture. Function, Materials, and Techniques in the archaic and classical Periods, Cambridge University Press 2006, 123 Anm. 19.  
  2. L. Schneider/Chr. Höcker, Die Akropolis von Athen. Antikes Heiligtum und modernes Reiseziel, Köln 1990, 189 f. Abb. 113.  
  3. J. Dörig, Die frühe Klassik: Der Strenge Stil · 500-450 v. Chr., in: J. Boardman/J. Dörig/W. Fuchs/M. Hirmer, Die griechische Kunst, München 1984 (= Sonderausgabe), 130 Taf. 170.
  4. G. Hafner, Kreta und Hellas, Baden-Baden 1968, 140 f. Abb. rechts.
  5. W. Fuchs, Die Skulptur der Griechen, München 1969, 509 f. Abb. 593 (mit Lit.).
  6. W.-H. Schuchhardt, Die Epochen der griechischen Plastik, Baden-Baden 1959, 78 Abb. 47.
  7. R. Hamann, Geschichte der Kunst. Von der Vorgeschichte bis zur Spätantike, München/Zürich 1952, 559 Abb. 575.
  8. W.-H. Schuchhardt, a. O., 78 Abb. 31.
  9. Jünglingskopf von der Akropolis in Athen. Bronze. Um 470 v. Chr. H.: 12 cm. Athen, Akropolismuseum 6590.  W. Fuchs, a. O., 551 Abb. 654. 
  10. W. Fuchs, a. O., 5.
  11. G. Hafner, a. O., 140.
  12. W. Fuchs, a. O., 8.
  13. K. Papaioannou, Griechische Kunst, Freiburg/Basel/Wien 1980⁴ (= Ars Antiqua), 170. Er behandelt zunächst noch die archaischen Kuroi und Koren, bevor er auf den Kritios-Knaben zu sprechen kommt und anhand dieser Skulptur das Neue des Strengen Stils darstellt.
  14. J. Dörig, a. O. 117.
  15. Cicero, Brutus, 18, 70. W. Hautumm, Die griechische Skulptur, Köln 1987, 95 Anm. 96. 
  16. W. Hautumm, a. O., 97.  
  17. W.-H. Schuchhardt, a. O., 78.
  18. Oberer Teil einer Stele eines sich bekränzenden Epheben. Wahrscheinlich Weihrelief. Gefunden 1915 in Sunion in der Nähe des Athenatempels. H.: 48 cm. B.: 49,5 cm. Um 460 v. Chr.  Athen, NM Inv. 3344. S. Karusu, Archäologisches Nationalmuseum. Antike Skulpturen. Beschreibender Katalog, Athen 1974, 36 Nr. 3344 Taf. 18. W. Fuchs, a. O., 508 f. Abb. 592. W. Fuchs sieht in dem Werk „eine Vorstufe des Knabensiegers des Polyklet“ und datiert das Werk „kurz nach 480 v. Chr.“.  W.-H. Schuchhardt z. B. datiert das Relief in das „Ende der siebziger Jahre“.  R. Hamann, a. O., 560 ff. Abb. 576. W.-H. Schuchhardt, Geschichte der Griechischen Kunst, Stuttgart 1971, 282 ff. Abb. 197 f. Th. Schäfer, Dikella, Terma und Tettix:  Zur Palästridenstele von Sunion, AM 11, 1996, 109-140. H. R. Goette, Ὁ ἀξιόλογος δῆμος Σούνιον. Landeskundliche Studien in Südost-Attika, Rahden 2000, 41ff. N. Kaltsas, Sculpture in the National Archaeological Museum Athens, Los Angeles 2002, Nr. 152. O. Pelagia, Greek Sculpture. Function, Materials, and techniques in the archaic and classical periods, Cambridge University Press 2006, 123 Anm. 21.
  19. Euthydikoskore. Oberkörper einer Kore von der Akropolis, Weihgeschenk. Parischer Marmor. 490/480 v. Chr. H. des Oberkörpers mit Kopf: 58 cm.  Athen, Akropolismuseum 686.  Dazu gehören Beine auf Basis. H.: 41,5 cm. Akropolismuseum 609. W. Fuchs, a. O., 176 Abb. 179 f. (mit Lit.).  K. Karakasi, Archaic Korai, Los Angeles 2003, 119. http://viamus.uni-goettingen.de/fr/mmbd/k  (mit Lit.).  
  20. R. Hamann, a. O., 560.
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